Ein Thema, mit welchem ich mich schon seit vielen Jahren eingehend beschäftige, sind Amokläufe – vor allem das Columbine Massaker 1999. Ich lese viele Bücher und Artikel darüber, schaue mir Interviews an und mache mir Gedanken zu dem Thema. Vielleicht war es also Schicksal, dass ich mir nun vor einigen Monaten, als ich in der Stadt auf meinen Freund wartete, die Zeit in meinem Lieblingsbuchladen vertrieb, und dort in die obere Etage ging, in der ich mich so gut wie nie aufhalte. Dort stieß ich auf ein Buch – ich dachte zunächst, es handele sich darin nur um eine verkorkste Liebesbeziehung (der Titel “Liebe ist nicht genug” ließ darauf schließen) – welches passender für mich nicht hätte sein können. Erst wollte ich einfach daran vorbei gehen, denn von eben solchen Liebesgeschichten hatte ich bereits viel zu viele im Bücherregal – aber dann fiel mein Blick auf das Titelbild:
Irgendwoher kannte ich den Jungen auf dem Foto. Also nahm ich das Buch trotz aller Vorurteile in die Hand und las den Untertitel: “Ich bin die Mutter eines Amokläufers”. Und in Verbindung mit dem Nachnamen der Frau ergab nun alles einen Sinn. Der Junge auf dem Foto war einer der Attentäter des Columbine Massakers, Dylan Klebold.
Und in diesem Moment fühlte ich nur eins. Ich war vollkommen fassungslos darüber, dass ich nach all den Dingen, die ich von irgendwelchen dahergelaufenen Reportern über die Tat erfahren hatte, nun tatsächlich erfahren würde, was wirklich passiert war. Denn näher als durch die Infos der Mutter, konnte man den Tätern nicht mehr kommen, da sich beide nach der Tat das Leben genommen hatten.
Ich legte sofort alle anderen Bücher, die ich vorher rausgesucht hatte, wieder zurück und kaufte nur dieses eine. – Und ich verschlang es.
Zunächst kann man ganz neutral, klar und ohne Frage feststellen, dass das Buch gut geschrieben ist. Die Geschichte, die Sue Klebold uns über ihren Sohn und auch ihr eigenes Leben erzählt, ist zugleich herzzerreißend traurig, schockierend, alarmierend, aber teilweise auch einfach eine Geschichte über eine ganz normale Familie, liebevolle, aber doch ab und zu strenge Eltern, zwei Brüder und ein Haus, hinter dessen Mauern niemand solches Unheil jemals erwartet hätte.
Bereits das Vorwort regte mich zum Nachdenken an. Andrew Solomon, der Tom und Sue Klebold traf, da er an einem Buch namens “Weit vom Stamm” arbeitete (welches von Eltern mit Problemkindern handelt), gibt dort ganz offen zu, dass er, bevor er die beiden kennenlernte, ganz aus Prinzip der Meinung war, dass sie zwar nicht unbedingt schlechte Eltern waren, man doch aber ganz klar würde die Fehler ihrer Erziehung erkennen können. – Womit er allerdings gänzlich falsch lag. “Ich wollte die Klebolds nicht mögen, denn dann müsste ich mir eingestehen, dass sie an den Geschehnissen keine Schuld trügen, und wenn sie keine Schuld trügen, könnte sich keiner von uns je sicher fühlen.” Aber Tom und Sue entpuppten sich als wunderbare, nette Menschen, Menschen, wie du und ich, die – man mag es glauben oder nicht – keinen blassen Schimmer von den Abgründen gehabt hatten, die sich in ihrem Sohn auftaten. Und ich muss ehrlich zugeben: es ging mir ähnlich. Auch ich war nicht davon überzeugt, dass die Eltern von Dylan und Eric für die Taten der Jungen verantwortlich waren, ganz einfach weil ich selbst ein Kind bin und auch schon Dinge getan habe, die der Erziehung meiner Mama vollkommen entgegengesetzt waren, und das auch immer an meiner Schwester beobachten kann. Nicht alles, was wir tun, lässt sich auf unsere Eltern zurückführen – so meine Meinung. Aber dennoch dachte auch ich, irgendwas muss es doch geben, irgendwas, was einen erkennen lässt, warum Dylan so handelte, wie er es tat. Und natürlich kann ich nicht vom selben Standpunkt aus sprechen, wie Andrew Solomon, schließlich liegen Welten zwischen einem persönlichen Treffen und dem Lesen eines Buches, dennoch hatten mich Sue Klebolds Worte bereits nach wenigen Kapiteln davon überzeugt, dass sie und der Rest ihrer Familie keine Schuld am Geschehen tragen. Unter anderem überzeugte mich wahrscheinlich die Tatsache, dass ich niemals das Gefühl hatte, Sue würde die Schuld von sich weisen. Ganz im Gegenteil. Ich glaube ihr auf’s Wort, wenn sie erzählt, sie suche seit Jahren nach den Dingen, die sie dafür verantwortlich machen. Und dass sie mit dieser Suche niemals aufhören wird.
Das Buch ansich besteht aus zwei Teilen (“Die letzten Menschen” und “Verstehen lernen”), die wiederum beide durch gut zehn Kapitel unterteilt sind. Es beinhaltet persönliche Bilder der Familie (auf denen Dylan keineswegs wie ein kaltblütiger Mörder wirkt), Tagebucheinträge von Sue Klebold und sowohl ihre Erinnerungen an Dylans Kindheit und Jugend, als auch an den Tattag und die Jahre danach und ihre Gedanken und Gefühle darüber. Oft betont Sue Klebold, dass sie versuche, absolut ehrlich zu sein, und ich muss erneut zugeben: Ich glaube ihr ohne Wenn und Aber, dass sie es tatsächlich ist.
Während ich das Buch las, machte ich mir immer wieder Notizen, denn als Sue davon erzählte, dass sie über die Jahre etliche Briefe erhalten hatte, stand für mich sofort fest: Auch von mir würde diese Frau einen Brief erhalten. Und dieser Brief war am Ende handschriftliche 15 Seiten lang!
Ich empfehle dieses Buch jedem, der der Meinung ist, dass Eltern zu 100% für das verantwortlich sind, was ihre Kinder tun. Jedem, der schon mal einen Schuldigen für egal was gesucht hat und vor allem aber jedem, der sich einbildet, das Recht auf eine Meinung zu einem solchen Thema zu haben. Sue Klebold wird nahezu alles, was ihr je gedacht oder gesagt habt, ja vielleicht sogar euer gesamtes Weltbild aus den Angeln heben, und alles in ein neues Licht rücken.
Wie bereits erwähnt, glaube ich Sue Klebold alles, was sie in diesem Buch preisgibt. Ich glaube ihr, dass sie nichts von den Abgründen ahnte, die sich in seinen letzten Lebensmonaten vor ihrem Sohn auftaten; dass sie ansonsten alles menschenmögliche für ihn getan hätte und dass sie kein schlechter Mensch ist, nur weil sie um ihren Sohn trauert, obwohl er ein Mörder ist. Und ich weiß, dass sie mir im Grunde das Blaue vom Himmel lügen könnte, denn ich kenne die nicht.
Aber das ist das Schöne an ihrem Buch – denn es ist nicht nur schockierend, angsteinflößend, alarmierend etc. – nein, es gibt einem auch Hoffnung und den Glauben daran, dass ein Mensch tragische Schicksalsschläge überwinden und den Weg zurück ins Leben finden kann. Mehr noch – obwohl ich dieses Buch gelesen habe – oder gerade weil ich dieses Buch gelesen habe – wurde mein Glaube an das Gute im Menschen noch etwas mehr gestärkt.